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Leseprobe

 

Die Rhön, schrieb 1904 der Professor Wilhelm Halbfaß, liege in mehrerer Herren Länder, besonders in Preußen, Bayern, Sachsen-Weimar; doch gebe es auch innerhalb dieser Territorien wieder Enklaven und Exklaven, «so daß man bei tüchtigem Marschschritt an einem Nachmittag gar leicht die Grenzen verschiedener Königreiche und Großherzogtümer überschreiten kann». Erinnert's nicht an König Peters Hof in «Leonce und Lena», von dem aus man noch den äußersten Winkel des Reiches erschaut? Ja, etwas wie einen Vorsprung, eine Nase schon sieht, ist das übrige noch jenseits der Grenze ...? «Sie kommen näher. Sie gehen auf das Schloß zu. Da sind sie.»

Etwas von diesem Minipotentätchentum, dieser Panoptikumgeographie, so manch kraus Verspieltes, das Franken oft prägt, in fast zwerghaft krummen Gassen, verqueren Marktplätzen, halbversteckten Ecken, Erkern, Gauben, Giebeln, ein bißchen schmaIbrüstig, engstirnig-kurios wie die Köpfe, Ausgeburten eines jahrhundertelangen Zusammengepfercht-, eines Dauerunterjochtseins durch allerlei in Nebel-, Wasser-, Wolkenburgen nistendes, stets auch gegenseitig sich bekriegendes Kroppzeug, die Drangsalierer wie die Drangsalierten gleichermaßen kleinkariert, ja, manches von dem geistert wohl (oder übel) auch durch die Rhön, deren Höhen, Wiesengründe oft ebenso im Spessart stehen könnten, im Steigerwald.

Und doch - etwas liegt da, umschwungen von fränkischen Forsten im Süden und Osten, im Westen, von den Schwarzen Bergen, dem Frankenwald, Thüringer Wald, Habichtswald, Vogelsberg, Spessart, mehr verregnet, verschneit und furioser umtobt als andere Mittelgebirge, etwas hier eigentlich kaum zu Vermutendes, Fremdes, unfränkisch jedenfalls wie nichts sonst in Franken, etwas, das Hölderlin, der tagelang die Rhön durchstreifte, vielleicht da an die Schweiz denken ließ, Ludwig Grimm, den Malerbruder der Märchensammler, an «ganz italienische Formen», andere an die Heide um Lüneburg, mich an gewisse Gegenden gar im Inneren Siziliens - dabei ein Fleckchen Unterfrankens bloß an der Grenze Hessens, wozu die Rhön meist gehört.

Freilich, was heißt Name denn, Grenze, Größe - aus dem Nichts, in das Nichts, flüchtiger, vergänglicher als Wind, der hier schon durch Äonen strich, und so Äonen noch nach dieser ach so wichtigtuenden Geschichte streicht, auf einem kleinen Stern am Rand einer Milchstraße zwischen Milliarden Milchstraßen, wenn von Franken, dem Vereinten Europa, von allem Wirtschaftswachstum, allen Inflationen, allem, was immer Menschenhirnlein, - stirnlein noch ersinnen und erzwingen, ruinieren werden, nicht der Schimmer auch nur existiert einer Erinnerung: - Wind bloß wieder, Wind, durch Millionen Jahre seine Partituren probend, als wär' nichts gewesen - und war etwas? - Wind bloß wieder, Wind just auch über jenes Erdstück hin, das man im 8. Säkulum, erschreckt von seiner nebulosen Einsamkeit, «vasta solitudo» nannte, öde Menschenleere.

Und doch rauschte Jahrtausend um Jahrtausend - pollenanalytisch erwiesen - die Kiefer, dann die Birke, dann die Hasel, die Eiche, schließlich, in diesem Augenblick der Waldgeschichte, seit sechstausend Jahren, die Buche über das Gebirg, das darum, seit dem Frühmittelalter, Buchonien, Buchenland hieß, ehe es seinen heutigen Namen bekam; vorgeformt vielleicht von Kelten schon, die da ihre riesigen Fliehburgen bauten.

Germanen kamen, Chatten (Hessen), die Alemannen, Thüringer, die diese elend schlagenden Franken, die unentwegten Schlachten und Raubzüge der Merowinger, der Karolinger wogten über die Rhön, die fortgesetzten Fehden der Würzburger Bischöfe, der Fürstäbte Fuldas wider die von Thüngen, von Eberstein, von Steinar, stets gegen die Henneberger auch, wobei man gelegentlich, wie Abt Bertho III. von Fulda, die Ritter sogar beim Beten abstach, eine spätere Geschichtsschreibung aber den Gotteshausbesuch des (Kirchen und Klöster reich beschenkenden) Rhönadels in einen versuchten Kirchenraub umgefälscht hat.

Doch die «geistlichen» Herren gerieten sich oft und blutig genug selbst in die Wolle, desgleichen natürlich die Reichsritter- und Reichsraubritterschaft, das ist dasselbe - während allmählich die weidenden Tiere die Rhön kahl unter sich bissen, die Glashütten, die Eisenschmelzen ihr Holz verschlangen, so daß nun das «Land der armen Leute», die «rauhe Region», auch Frankens Sibirien genannt (neun Monate Winter, heißt es, drei Monate kalt), daß nun dies Opfer der Versehrung so eigentümlich urwüchsig, unversehrt wirkt und mit seinen Matten, Mooren, seiner herben «Leere» mich so anzieht, die Hohe, die Lange Rhön, an nordisch Weites erinnernd, östlich Verstepptes, an Unwegsames südlicher Inseln. Keine Täler, keine Weiler, kaum Grün, kaum Wald, immer wolkennah aber und Fernen verschwistert - beige Wiesen, Ocker, verblaßtes Violett.

Wo ließe sich freier atmen in Franken, wo freier fühlen: beinah baumlos die Hochebene, kümmerliche Kuppen, Mulden, eine sonderbar zehrende Melancholie, Weißdornbüsche, einzeln, Krüppelfichten, Hutebuchen, gestürmzerzaust, Ebereschen zuweilen, Karpatenbirken, Höhen, Triften voller Wollgras, von Weidenröschen manchmal überflutet, Schafen, unbeweglich fast gleich Steinen, mit der Landschaft wie verwoben - ach, und im Dunst erst, im schon dämmrig Diffusen, wenn Nebel aufsteht, sich breit macht, bläht oder abgetakelt zerfranst. Nur kein Azurblau! Unheilschwangeres eher, Kassandrahaftes, wie um kleine skandinavische Häfen im Herbst, verlassene Molen, überschwappte Kais, wenn selbst die Leuchttürme ertrinken, wenn Schwermut dies langgestreckte Hochplateau bekriecht - eines der größten Mitteleuropas -, wenn es sickert erdnah, von oben, wenn's nieselt und weht da und wabert, als wollte es nie mehr weichen: Zwielicht, kaum Menschliches noch, Lebendiges - Unterirdische aber, Erdgeister, Moorjungfern, Baummännchen, Wolkenränder, unwirklich wirklich, stumm. Der Schäfer in seiner Herde, wie aus biblischen Tagen, aus Nebelteichen, etwas wie Wacholderbüsche, «Hellmuth-Streifen», Rauch der Geschichte («Gau Mainfranken an die Spitze!»). Tausend Jahre Blut und Boden, Volk ohne Raum ... Deutsche Demokratische Republik («Ewig Freundschaft mit der Sowjetunion!»).

Und die Nebel drehn sich, drehn, graue Gedanken einer Welt aus Wasser, Vergangenheit weder noch Zukunft, auf einen unbedeutenden Planeten am Rand einer Milchstraße unter Milliarden Milchstraßen... tausendjährige Reiche, Paradiese der Ewigkeit, aus dem Nichts, in das Nichts, Schmutz der Geschichte, Staub. «Ein Mensch in seiner Herrlichkeit kann nicht bleiben, sondern muß davon wie das Vieh». Und: «Bei den Toten, zu denen du fährst, gibt es weder Tun noch Denken, weder Erkenntnis noch Weisheit», «die Toten wissen nichts; sie haben auch keinen Lohn mehr, denn ihr Andenken ist vergessen ...» sagt die Bibel.

Immer bewegt mich das zwischen Fladungen und Bischofsheim so hoch hingebreitete, das wie frei gefegte Land, das die Hochrhönstraße fünfundzwanzig Kilometer durchzieht. Immer ergreift mich diese waldlose, hauslose Eintönigkeit, immer erregt sie und beruhigt sie mich. Immer hat zumal das Stück zwischen Schwarzem Moor und Heidelstein, hat dieses so unpathetisch pathetische Stück Welt, das da mit falben Halmenwüsten, Huten wie ein einziger Altar sich erstreckt, auf dem Erde bloß und Himmel zelebrieren, nur Wind zuhause scheint, nur Schwermut, Schnee, immer hat dies etwas traurig Ausgesetztes und Behütendes zugleich, spüre ich, wie selten sonst, mich dem Chthonischen hier nah, dem Pflanzlichen, Mineralischen. Ist alles doch, glaube ich, bis in die fernsten Lichtjahre, lebendig, beseelt - beiseite bloß gewisse Typen der progressivsten Affenart, beiseite auch Geister, Gespenster.

 

Die Rhön


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Diese Seite wurde zuletzt aktualisiert am 11.08.2003 - Änderungen vorbehalten -