> Werk > Gesellschaftskritik > Was ich denke > Leseprobe

 
         
 

Leseprobe

 

Ich finde es nicht nur schöner,sondern
auch nützlicher, meinem Hund zu folgen
statt der Obrigkeit.

 

Eigentlich - eigentlich ist eigentlich ein schönes deutsches Wort, aber was heißt es eigentlich? Ein Blick ins Wörterbuch zeigt, es kommt vom Mittelhochdeutschen eigenliche, eigen oder eigentümlich, das heißt: ausdrücklich, bestimmt; es bedeutet soviel wie wirklich, tatsächlich, und das freut mich, denn beide gehören zu meinen Lieblingswörtern. Insbesondere «tatsächlich» gebrauche ich oft, gebrauche es fragend und bestätigend. Eigentlich bedeutet soviel wie ursprünglich, genaugenommen, bedeutet die Wirklichkeit im Unterschied zum bloßen äußeren Schein. Eigentlich hängt also mit der Frage nach dem Grund zusammen, dem Wesen, und all dies, meine ich, ist nicht ganz unbezeichnend für mich, für meine Art zu denken und so wohl auch für meine Art zu sein.

Eigentlich also, wollte ich sagen, eigentlich könnte ich so mein Leben beenden.

Ich hatte die Frage des Herausgebers im Kopf, «was ich denke», saß an meinem Schreibtisch, wie jetzt, wo ich dies in eine altmodische kleine Reiseschreibmaschine tippe, und sah über Papier, lauter aufgehäuftes Papier, Bücher, Zeitungen, Manuskripte, Schreibutensilien und allerlei Krimskrams, der vielleicht gar nicht auf einen Schreibtisch gehört, ins schräg gegenüberliegende Zimmereck, wo unter den Bücherrücken bis zur Decke kaum ein Fleckchen Wand frei ist, im Zimmer links Bücher, im Zimmer rechts Bücher, im Zimmer dahinter Bücher, auf dem Gang Bücher, oben Bücher, unten, im sogenannten Archiv: Papier, Papier, Papier. Ich habe mein Leben mit Papier verbracht, mit Papier und viel Staub, zu dem all dies Papier auch wieder zerfallen wird. Ich saß also da und sah ins Eck, wo auf einer alten bräunlichen Decke mit ein paar Salatblättern, etwas Heu, ein paar Haferflocken und einem Wassernapf ein kleines schwarzes Häschen saß, sein Gesicht, wie meist, zu mir gewandt, und vor sich hinguckte. Ob zu mir - ich erkenn es ohne Brille nicht, und alles ist schwarz an ihm, jedenfalls wenn es so sitzt. Ein paar weiße Streifen an den Pfötchen sieht man jetzt nicht, und auch nicht die helleren Härchen im Nacken, nur sichtbar, wenn es den Kopf mit den langen schmalen Hasenohren nach unten hält. Nein, Haarausfall, hatte ich beim erstenmal gedacht, eine Art Glatzenansatz am Hinterkopf? Doch nichts dergleichen. Es war bloß ein Streifen hellerer Haare, ein Erbe wohl von seiner ganz weißen Mutter, mit der es immer zusammensaß, vier, fünf, sechs Jahre vielleicht, so gut wie immer im selben Stall, im selben Raum, ein ganz scheues, ganz stilles Häschen, das ruhigste, leiseste von allen, die ich hatte, ein Tierchen, das mich von Anfang an an jemanden erinnerte, an jemanden, der mir nahesteht.

Ja, also, dachte ich, eigentlich könnte ich so mein Leben beenden: das Häschen im Arm, ein halbes Stündchen am Tag, seine dunklen, völlig unergründlichen Augen sehen, wie kleine, ganz schwarze rundliche Weiher, nur viel unergründlicher eben, so nah mir und so unendlich fern, sein Fellchen kraulen, seine Ohren. Manchmal, wenn es jetzt, im Winter, aus dem Keller kommt, sind sie ganz kalt, ja, du hast ja ganz kalte Ohrchen, sage ich, ganz kalte Ohrchen, reibe sie zwischen meinen Fingern und gegeneinander, während meistens dabei der Hund vor uns am Boden liegt, immer in der gleichen Stellung, die dunklen Vorderbeine lang nach vorn, und dunkel und ganz unverwandt zum Häschen aufschaut, nur selten, ganz kurz, zu mir linst, aber gleich wieder mit den Augen beim Häschen ist, unverwandt, jede Bewegung meiner Finger verfolgend, ab und zu öffnet er leicht den Mund, ganz leicht, man sieht nicht die Zähne, die Zunge bloß ein bißchen, fast nur symbolisch schnappt er, schmatzt er, ein fast unhörbares Geräusch, es ist eine Liebeserklärung, ich hab dich zum Fressen gern, heißt es.

Ja, so, das Häschen im Arm, nicht nur in den kurzen, der Arbeit gestohlenen Minuten oder kaum Minuten, nein, ein ganzes halbes Stündchen dann manchmal über die Terrasse gehn, und nicht bloß, wenn das Herz sich meldet, die Zimmerluft mir zusetzt. Ja, nicht so wie jetzt, zwei-, dreimal über die Terrasse, entspannt, ganz entspannt, locker, locker, tief Luft holen, schnauben wie ein Walroß, an die Zeit denken, die Arbeit, und schon wieder rein und weiter im Text. Nein, wozu diese Hetze, diese Leserei, Schreiberei, Sucherei, dies ewige Verbessern (und Verschlechtern), dies Hin- und Herwenden und Umstellen und Austauschen der Wörter, Begriffe, Gedanken, ach, auf lange Sicht nützt das Feilen der Sätze nicht mehr als das Feilen der Nägel, ist früher oder später alles für die Miezekatz, wie Ernesto sagen würde.

Wozu also? Aufstehen vielmehr, wann's mir paßt. Nicht stehend das Frühstück hinunterschlingen. Oh, ich kann lange frühstücken in der richtigen Gesellschaft. Wichtiger, als das, was man ißt, wer sagt das, sagt das schon in der Antike, wichtiger ist, mit wem man ißt . . . Dann einfach in den Wind sehen, die Wolken, halbe Stunden lang, die Blätter hören. Lesen? Ich weiß nicht, wenn ich Lust hab, natürlich. Vielleicht aber genügt mir schon die Erinnerung an Gelesenes, ein paar Novellenanfänge: Das Rad an meines Vaters Mühle brauste und sauste schon wieder recht lustig . . . Um zwei Uhr einer schönen Junimondnacht schritt ein Kater längs des Dachfirstes und sah in den Mond. . . Meine Lieblingsdichter, während ich das Sonnen-, das Mondlicht in den Gartenbäumen betrachte, mit Rollo über Höhenwege strolche, nichts Besonderes denke, wenig, Unwichtiges nur, durch den Tag halt, so dahin, den Hund neben mir, und Gedachtes, Gedachtes verwischt bloß, kaum verfolgt, kaum verfolgbar, aus Undeutlichem kommend, zerfließend wieder, viel Luft um die Augen und Weite darin, zum Sehen geboren - zum Denken? Ein Taubenflügelschnitt, fein, schnell und rasch verschwindend, der ziehende Sog unsichtbarer Enten im Nebel, den Herbst sehen, das Licht sehen, Licht, Licht ist meine Lieblingsfarbe, wie blaue Wale schwimmt's am Horizont, die Baumgefilde meiner Jugend. Denken, wozu denken? (Ob selbst das schönste Buch den Wald aufwiegt, der dafür stirbt?) Zurückkehren wieder, in den Abend hinein, ein paar Verse vielleicht. Dämmrung will die Flügel spreiten . . . Hast ein Reh du lieb vor andern, laß es nicht alleine grasen . . . Aber nein, zu bewegt schon viel zu bewegt jetzt für mich, es bringt Unruhe, Irritationen... Jäger ziehn im Wald und blasen, Stimmen hin und wider wandern . . . Nein, ich brauche Ruhe. Ich bin schließlich, ich kann', nicht glauben, zum Schreien ist's, ich bin im Ruhestand. Ich könnte es sein, heißt das. Es klingt grotesk für mich, verrückt. Als ich acht war, hatte ich einen Freund, meinen ersten, und dann hatte ich lange, lange keinen mehr. Den Müllerssohn hatte ich zum Freund, der zwölf war, so alt schon! Er kam ins Mühlrad und lebte noch zwei Tage. Und als ich zwölf war, da konnte ich mir nicht vorstellen, jemals zwanzig zu sein, so erwachsen. Und nun, nun.

 

Was ich denke

Leseprobe

siehe auch:
- Kurzbeschreibung
- Leseprobe
- Ausgaben / Bezugsquelle
- Pressestimmen
- Leserstimmen

 

       
           
 

<< zurück

drucken

 

 
 
 
 

Diese Seite wurde zuletzt aktualisiert am 23.12.2003 - Änderungen vorbehalten -